61. Europatag der Paneuropa-Union in Andechs

Posselt: "Beihilfe zum Völkermord"

01.05.2024

Die Welt rings um Europa steht in Flammen, und in der Ukraine sind die Europäer durch die russische Aggression direkt herausgefordert. Der 61. Andechser Europatag der Paneuropa-Union auf dem „Heiligen Berg“ von Andechs beschäftigte sich mit der Frage, wie die Europäer mit dem Ernstfall umgehen, und welchen Beitrag Europa leisten kann, um Sicherheit und Frieden auf unserem Erdball zu festigen.

Podium zur Lage in Rußland: v.l.n.r. Moderator Frederik Ströhlein, Dirk-Hermann Voß, Bischof Stanislaw Szyrokoradiuk, Volkmar Halbleib MdL, Thomas Erndl MdB, Barbara von Ow-Freytag, Botschafter Ramu¯nas Misiulis und Prof. Ihor Zhaloba.
Podium zur Lage in Rußland: v.l.n.r. Moderator Frederik Ströhlein, Dirk-Hermann Voß, Bischof Stanislaw Szyrokoradiuk, Volkmar Halbleib MdL, Thomas Erndl MdB, Barbara von Ow-Freytag, Botschafter Ramu¯nas Misiulis und Prof. Ihor Zhaloba. © Kijas

„Beihilfe zum Völkermord durch Unterlassen“ begeht nach Ansicht des langjährigen Münchner Europaabgeordneten Bernd Posselt „jeder Staat, der der Ukraine lebensnotwendige Luftabwehrsysteme und Munition verweigert.“ Der Präsident der überparteilichen Paneuropa-Union Deutschland erklärte beim 61. Andechser Europatag dieser ältesten europäischen Einigungsbewegung, daß es Ziel der russischen Politik sei, sowohl die Ukrainer als eigenständiges Volk auszulöschen als auch ein von Moskau beherrschtes „Eurasien von Wladiwostok bis Lissabon zu errichten, wie Putin und seine Gefolgsleute immer wieder ganz offen sagen.“ Posselt betonte, daß der Aufstieg Putins vor 25 Jahren „durch den blutigsten Wahlkampf der neueren Geschichte, nämlich den von ihm ausgelösten zweiten Tschetschenienkrieg, erfolgt ist. Schon damals hätte man sich ihm entgegenstellen müssen, statt sich energiepolitisch von ihm abhängig und erpreßbar zu machen.“ Für eine künftige Friedensordnung sei außer der Errichtung einer Europäischen Verteidigungsunion sowie der Osterweiterung von EU und NATO „auch eine präventive Diplomatie vonnöten, die durch Klarheit und Realismus Konflikte frühzeitig vermeidet.“
Bei der internationalen Tagung verwies Prof. Michael Wolffsohn von der Bundeswehr-Universität Neubiberg auf die systematische Einkreisungspolitik des Iran im Nahen Osten, durch die Teheran inzwischen zur Vormacht der ganzen Region aufgestiegen sei. Der Libanon sei weitgehend beherrscht von der mit dem Iran verbündeten und von ihm aufgerüsteten Hisbollah, Syrien von dem mit den Mullahs eng verbundenen Assad-Regime. Hinzu kämen die von Teheran gelenkte schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak, in Bahrain und in den östlichen Öl-Gebieten Saudi-Arabiens sowie die Hamas im Gaza-Streifen und die Huthi-Rebellen im Jemen. Die Entwicklung der israelisch-palästinensischen Beziehungen sei eine „Geschichte der verpaßten Gelegenheiten“. Wolffsohn äußerte seine Skepsis gegenüber einer „international festgelegten Zwei-Staaten-Lösung“ und brachte föderalistische Modelle ins Gespräch. An der EU kritisierte er, daß sie im Gegensatz zu ihren Gegnern keine gemeinsame außenpolitische Strategie habe.  
Prof. Martin Schulze Wessel von der Ludwig-Maximilians-Universität in München nannte die Entwicklung Rußlands seit Zar Peter I. einen „expansiven Irrweg, der wahrscheinlich noch lange nicht zu Ende ist.“ Er warnte davor, sie hauptsächlich den jeweils herrschenden Ideologien zuzuordnen, sie sei vielmehr in erster Linie durchgehend imperialistisch. Die
ukrainische Identitätsbildung im 19. Jahrhundert habe Rußland, wie schon zuvor die polnische Eigenständigkeit, als tödlichen Angriff auf die Einheit der Slawen empfunden. Dementsprechend habe man schon damals die Ukrainer nicht als Nation mit eigenem Recht, sondern als ein Werkzeug von „Polen und Jesuiten“ gegen Rußland angesehen. Heute habe Putin dieses Narrativ auf den Westen und die NATO übertragen.
Monsignore Wolfgang Huber, Präsident des in Afrika und Asien tätigen katholischen Missionswerks „Missio“, sprach über den möglichen europäischen Beitrag zu Frieden und Entwicklung in der Welt. Christliche „Mission“ sei nicht im Sinne von Kolonialisierung zu verstehen, sondern es gehe darum, aus der Solidarität des Evangeliums heraus Lebensqualität mit anderen Menschen zu teilen. Dabei sei Aufmerksamkeit und Gespräch von besonderer Bedeutung, damit die Hilfe wirklich den Bedürfnissen der Betroffenen entspreche. Gerade dieser Aspekt werde in der Entwicklungspolitik oftmals vernachlässigt, weshalb es viele „Geschenke“ gebe, mit denen die Beschenkten gar nichts anfangen könnten. Der Auftrag des Evangeliums, Frieden zu stiften, sei anstrengend, weil er es nötig mache, auch Kultur, Geschichte und Zusammenhänge wahrzunehmen - um nicht erst reagieren zu können, wenn der Krieg bereits ausgebrochen sei. Der Vorteil der katholischen Kirche liege dabei darin, daß sie überall auf der Welt auf Ortskirchen, Klöster und Pfarreien zurückgreifen könne.
Prof. Mislav Ježić von der kroatischen Akademie der Wissenschaften, internationaler Vizepräsident der Paneuropa-Union, faszinierte durch eine vergleichende Analyse des Friedensbegriffes und des Friedenswerkes des indischen Staatsgründers Mahatma Gandhi, des Vaters der Paneuropa-Bewegung, Richard Coudenhove-Kalergi, und des 1928 von einem serbischen Nationalisten ermordeten Vorsitzenden der Kroatischen Bauernpartei, Stjepan Radić. Alle drei seien Friedenskämpfer im Jahrhundert der Weltkriege gewesen. Richard Coudenhove-Kalergi als jüngster von ihnen habe bereits nach
dem Ersten Weltkrieg begonnen, die Idee der europäischen Einigung als Instrument des Friedens zu verkünden. Der Älteste von ihnen, Mahatma Gandhi, habe schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Menschenrechte der von der Apartheidpolitik bedrückten Inder in Südafrika verteidigt, diesen Kampf dann in der Zwischenkriegszeit auf dem indischen Subkontinent fortgesetzt und nach 1945 die Dekolonisierung verwirklicht. Beeindruckend waren die Parallelen, die Ježić zwischen dem 1905 erschienenen Buch von Radić „Das zeitgenössische Europa“ und dem wichtigsten Werk Coudenhoves, dem 1923 erschienenen „Pan-Europa“, aufzeigte. Anders als für Coudenhove sei aber für Radić eine politische Einigung Europas noch nicht vorstellbar gewesen. Alle drei waren, so Ježić, „keine illusionistischen Pazifisten, sondern realistische Friedensstifter.“  
Pater Valentin Ziegler begrüßte die Gäste - unter ihnen den Beauftragten des Freistaats für den Kampf gegen den Antisemitismus, Staatsminister a.D. Ludwig Spaenle sowie die Vizepräsidenten der Paneuropa-Union Deutschland Michael Gahler MdEP aus Hessen und Andreas Raab aus Baden-Württemberg - namens des Konvents auf Bayerns Heiligem Berg. Mit dem Titel „Welt in Flammen. Wozu der Frieden Europa braucht“ habe sich die Paneuropa-Union den Herausforderungen der Zeit gestellt.
Ein mitreißendes musikalisches Programm gestaltete die aus jungen Menschen mit Behinderungen bestehende „Rolli-Gang“ unter der Leitung von René Vollmar, die im Klostergasthof „Lieder für Europa und den Frieden“ präsentierte.
Den Festgottesdienst zu Ehren des Heiligen Benedikt in der Andechser Wallfahrtskirche hielt der römisch-katholische Bischof von Odessa, Stanislaw Szyrokoradiuk, der von den Leiden und der Geduld der Menschen seiner Diözese erzählte, deren Glauben und Hoffnung er bewundere. In ihrem Namen dankte er für jede praktische und moralische Unterstützung, aber auch für „Ihr Gebet, das wir brauchen und um das wir ständig bitten“.
Das abschließende Diskussionsforum, das vom Vorsitzenden der Paneuropa-Jugend Bayern, Frederik Ströhlein, moderiert wurde, befaßte sich mit dem Thema „Wahltag in Rußland – Zahltag für Europa?“
Bischof Szyrokoradiuk wies darauf hin, daß der Krieg gegen die Ukraine nicht erst 2022, sondern 2014 mit der Besetzung der Krim begonnen habe. Damals sei in Rußland der Krieg noch weithin als schlecht empfunden worden. Nach „acht Jahren ununterbrochener brutaler Haßpropaganda, Tag und Nacht,“ habe Putin die Zeit reif gesehen, den Krieg im großen Stil zu beginnen. Dabei sei er zum Teil Opfer der eigenen Lügenpolitik geworden, weil seine Leute in der Ukraine ihm versichert hätten, seine Soldaten würden dort mit Blumen empfangen. Auf die Frage nach der Rolle der Kirchen bedauerte der Bischof, daß die orthodoxe Kirche von Putin zu einem politischen Instrument gemacht worden sei, das die Kriegspropaganda aktiv unterstütze. In der katholischen Kirche in den besetzten Gebieten und in Rußland stehe man vor der schweren Entscheidung, zu schweigen und weiter für die Gläubigen zur Verfügung zu stehen oder die Wahrheit zu sagen und damit Repressalien auszulösen. Dies sei auch der Hintergrund der Äußerungen von Papst Franziskus zu diesem Thema.
Die Osteuropa-Analystin Barbara von Ow-Freytag, Vorstandsmitglied des Prague Civil Society Centre, befand, man könne das Geschehen in Rußland „nicht einmal in Anführungszeichen als Wahl bezeichnen“. Es habe früher schon simulierte Demokratie und Scheinwahlen gegeben, aber „das ist jetzt Fake und Farce in einem“, sagte die langjährige Moskau-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung. Mehrere frühere Amtszeiten des Präsidenten, der in seine fünfte Periode starte, würden ignoriert; die Wahl werde drei Tage lang manipuliert, und es gebe keine verläßliche Wahlbeobachtung, etwa durch die OSZE. Auch die letzte Wahlbeobachtungs-Organisation der Bürgergesellschaft sei aus dem Land gedrängt worden. Dafür laufe die Propaganda im Fernsehen auf allen Kanälen. Anders als bei früheren Wahlen sei der einzige halbwegs glaubwürdige Gegenkandidat, für den 200 000 Bürger unter großem Risiko mit ihren persönlichen Daten unterschrieben hätten, nicht zugelassen worden. Putin habe auf Kriegswirtschaft umgeschaltet, 40 Prozent des Haushalts würden für Rüstung aufgewendet. Von seinem Volk verlange er inzwischen nicht nur Stillhalten, sondern Komplizenschaft für den Krieg. Dafür gebe er „ein bißchen Ehre, wie im Zarenreich“. Die Osteuropa-Analystin rief deshalb dringend zu realistischer Wahrnehmung auf.
Der litauische Botschafter in Deutschland, Ramūnas Misiulis, dankte insbesondere Bernd Posselt für die Beachtung der baltischen Länder. Zur Manipulation der russischen Wahlen lieferte er weitere Details, etwa in Bezug auf die besonders hohe angebliche Wahlbeteiligung in Tschetschenien (über 90 Prozent), und in den besetzten
ukrainischen Gebieten. Estnische Journalisten hätten herausgefunden, daß Putin mehr als eine Miliarde Dollar für Filme, Computerspiele und Ähnliches zur Unterstützung seiner Wahl ausgegeben habe. „Putin hat sich in eine Sackgasse getrieben. Er kann seine Politik nicht ändern, und er kann auch nicht von der Macht zurücktreten, denn das wäre nicht nur sein politischer, sondern höchstwahrscheinlich auch sein tatsächlicher Tod.“ Deshalb könne der Krieg nicht „eingefroren“ werden: „Rußland wird bis zum Ende gehen, bis zum Sieg oder bis zur Niederlage. Wir können uns nicht erlauben, daß Rußland gewinnt.“
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bayerischen Landtag, Volkmar Halbleib MdL, empfahl der EU und ihren Mitgliedstaaten, sich deutlich zum illegitimen Charakter der Wahl in Rußland zu äußern, auch wenn dies die Gesprächsfähigkeit beeinträchtige. Zudem solle man diejenigen, die die Wahlinszenierung betrieben hätten, auf die Sanktionsliste setzen und, zumal nach dem Tod von Alexej Nawalny, die Zivilgesellschaft nach Möglichkeit unterstützen. Langfristig brauche es größere Einigkeit in Europa, der NATO und der EU, wie man sich Rußland gegenüber einstelle, wobei man sich, um eine stärkere Positionierung gegen Putin zu erreichen, auch mit den Regierungen in den eigenen Reihen auseinandersetzen müsse, „die sich enthalten“.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Thomas Erndl, stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses sowie Vizepräsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr, rief sich sein eigenes Entsetzen im Februar 2022 in Erinnerung, daß „jemand tasächlich im 21. Jahrundert einen Krieg vom Zaun bricht.“ Damals hätten viele geglaubt, Putin habe bei der Besetzung der Krim „halt eine Gelegenheit genutzt“, werde aber mit Rücksicht auf seine Geschäfte sein „Säbelrasseln“ nicht in die Tat umsetzen. Heute sei aber klar, daß er ein „Verbrecher, Kriegsverbrecher und brutaler Dikator“ sei, der „jede Gegenmeinung, jede Opposition, jeden Gegner beiseite schafft für einen falschen Satz zur falschen Zeit.“ Das alles habe man nicht sehen wollen und die Warnungen der baltischen Staaten „beiseitegewischt“. Der Krieg werde nicht in zwei Jahren vorbei sein, schon gar nicht werde man in zwei Jahren weiterwirtschaften können wie vor 2022. Deshalb dürfe es im Bereich der Verteidigung keine „roten Linien“ geben, sondern „wir müssen alle Möglichkeiten wahrnehmen und verstärkt in die Sicherheit investieren“. Zugleich dürfe man „den Faden zu den 20 bis 30 Prozent Russen, die gegen Putin sind, nicht abreißen lassen.“
Der Europa- und Verfassungsrechtler Dirk H. Voß, Vizepräsident der internationalen Paneuropa-Union, zog angesichts der Bedrohung Europas durch Rußland Parallelen zur Zeit des beginnenden Zweiten Weltkriegs, als Chamberlain meinte, Hitler sei mit dem Sudetenland zufriedenzustellen, und man in Frankreich die Frage „Sterben für Danzig?“ stellte: „Ein Jahr später stand die Wehrmacht in Paris.“ Wer wie die AfD und die Wagenknecht-Partei das Richtige und Naheliegende aus Ideologie oder Bequemlichkeit in der Politik verhindere, sei ein Verräter an seinem Volk. Europa müsse als Friedensmacht gemeinschaftlich seine Wehrhaftigkeit stärken, wozu auch eine nukleare Abschreckung in europäischer Souveränität erforderlich sei, betonte Voß.
Der Historiker und Politikwissenschaftler Prof. Ihor Zhaloba, Präsident der Paneuropa-Union Ukraine, überbrachte die Grüße seiner Kameraden, mit denen er vor kurzem noch an der Front war: „Es ist für sie sehr wichtig, daß hier beachtet und verstanden wird, was in der Ukraine passiert.“ Zhaloba, der am Vortag eine Schule in Ravensburg besucht hatte, freute sich über das Verständnis der angeblich politikfernen Jugendlichen, daß es sich „um einen Krieg zwischen Demokratie und Totalitarismus und eigentlich um ihre Zukunft handelt.“ Das habe ihm große Hoffnung gegeben. “Ich mag Deutschland und Österreich,“ meinte Zhaloba, „aber ich will in der Ukraine mein Leben verbringen, und nicht als Sklave wie die Russen, die jetzt zur Wahlurne gehen“. Heute stünden viele junge Ukrainer an der Front in „einem Krieg, der für die Freiheit aller wichtig ist. Deshalb müssen wir in Europa – viribus unitis – gemeinsam handeln, für uns und unsere Kinder.“